Vor meinen Augen entsteht
das Bild einer Pflanze, bestens ausgestattet für Wachstum, Entfaltung und eine reiche Zahl an Blüten mit berauschendem Duft. Diese Pflanze steht in einem hübschen Terrakotta Topf. Er war ihr während ihrer vergangenen Lebensphase ein gutes zu Hause. Sie konnte ein stückweit in die Höhe wachsen und hat einige erste Zweige und hübsche grüne Blätter an ihrem stolzen Stängel. Die ersten Knospen sind bereits zu erahnen. Man bekommt ein vages Gefühl von der Schönheit, die sie in sich birgt. Und doch. Ungelebte Lebendigkeit. Das Bild endet noch nicht. Diese Pflanze lässt traurig den Kopf hängen. Zu lange schon steht das Umtopfen in einen größeren Topf aus. Die Versorgung mit den nötigen Nährstoffen kommt seit einiger Zeit zu kurz. Das gelegentliche Gießen reicht nicht aus. Die ersten Blätter zeigen gelbliche Ränder. Und bei genauerem Hinsehen erkennen wir, dass die zart angemuteten Knospen noch im Blütenkelch bereits zu trocknen beginnen. Lange, bevor sie Gelegenheit bekamen, auch nur im Ansatz ihre innere Farbe nach außen zu kehren.
Ungelebte Lebendigkeit. Ich scrolle mich durch die Werbeanzeigen von duden.de und erfahre: lebendig = 1. Lebend, am Leben und 2. lebhaft, munter, voll Leben.
Wer kennt nicht das Gefühl, dass trotz der gelegentlichen Seelenpflege, dem kosmetischen Selfcare Programm oder den spirituellen Ausbrüchen raus aus dem Alltag, rein in die Meditation, die Kraft zum Leben über den Alltag hinaus oft nicht zu reichen scheint. Unsere metaphorischen Blätter werden welk, verlieren ihre Strahlkraft und der Schmerz um die vor ihrer Zeit vertrockneten Knospen wird am besten gar nicht erst zugelassen. Wir erhalten mühsam den Status quo auf Kosten einer möglichen Weiterentwicklung.
Ungelebte Lebendigkeit. Ein trauriges Bild zeichnet eine herzliche Einladung. Denn wer kennt nicht auch Pflanzen, die sogar getrennt von der Wurzel so ganz unbedingt weiterleben wollen, dass sie einfach neue bilden? Ob nun die Weidenzweige in der Osterzeit oder sogar die lange im Kühlschrank vor sich hin vegetierende Staude Sellerie und selbst der abgeschnittene Stängel Basilikum – sie alle haben einen bemerkenswerten Willen zu leben. Setzt du sie nur lange genug ins Wasser, entwickeln sie neue Wurzeln, um wieder einen Draht zu dem zu entwickeln, was sie am Leben erhält. Um wieder Zugang zu dem zu erhalten, was sie für ihr Leben und das dazugehörige Wachstum benötigen. Vermeintlich unbelebte Pflanzen machen es uns vor. Sie zeigen uns, wie unbedingt der Wille zu Leben ist. Wie sehr das Leben am Leben hängt. Und warum sollten sie darin „besser“ veranlagt sein als wir?
Wir müssen da auch gar nicht so radikal werden. Es braucht nicht immer den rabiaten Schnitt, der uns von allem Alten trennt. Vielleicht reicht es auch aus, uns in einen größeren Topf zu setzen, um uns mit dem zu versorgen, was wir heute brauchen. Das Gießen von einem Minimum auf ein Optimum zu erhöhen. Sorgsam bedacht darauf, dass wir genau mit den Nährstoffen ausgestattet werden, die wir benötigen. Weg von Überleben, hin zu Leben! Uns zu erlauben, mit Freude die ersprießenden Knospen wahrzunehmen in dem Wissen, dass jede von ihnen eine Bereicherung für unser Leben ist. Für das Leben insgesamt. So ganz und gar ohne Furcht, dass es nur wieder zu einer frühzeitigen Vertrocknung kommt. Ganz beseelt davon, dass wir der Einladung des Lebens folgen.
Ungelebte Lebendigkeit. Klingt für mich nach einem Risiko, dass wir an zu vielen Stellen in Kauf nehmen. Immer dann, wenn wir unserer Sehnsucht nicht folgen. Die Gründe für das Zurückhalten der Lebendigkeit erscheinen uns sicherlich absolut plausible. Keine Zeit, keine Kraft, zu viel Arbeit, und dann noch der Haushalt und die Kinder. Aber sind das unumgängliche Hindernisse? Sind wir dazu verdammt, in einem zu kleinen Topf unter unserem eigentlichen Maß zu bleiben? Oder sind wir dazu eingeladen, eine Achtsamkeit dafür zu entwickeln, wann es an der Zeit ist, eine Veränderung zu begrüßen? Können wir es uns erlauben, so ganz unbedingt zu leben? Wie viel Kraft wird frei, wenn wir unsere Lebendigkeit nicht mehr aktiv drosseln?