Wenn das Leben dich so ganz beherzt am Ohr packt
und in eine bestimmte Richtung zieht. Kennst du das? Plötzlich fliegt dir gefühlt alles um die Ohren, und doch ist alles beim Alten. So ein komisches Gefühl der Zerrissenheit macht sich breit und du kannst dir das gar nicht richtig erklären. Alles ist gut. Alles ist wie immer. Und genau das ist vielleicht das Problem.
Wenn du plötzlich an einer Gabelung ankommst, es nicht merkst und weitermachen willst wie immer, kommt zuweilen das Leben längs. Erst versucht es sachte, dich aufmerksam zu machen. Schickt dir kleine Impulse, Innen wie Außen. Es fängt an, ein bisschen komisch zu werden. Aber so richtig kommt es noch nicht durch. Es ist ja alles gut. Alles wie immer. Alles, wie du es kennst. Doch mit der Zeit wird das Leben etwas deutlicher. Die Impulse, vermutlich hauptsächlich innen, werden intensiver. Du spürst diesen latenten Widerstand gegen das, was ist. Aber wie kann das sein? Alles ist ja eigentlich gut. Alles ist wie immer. Und dann, irgendwann, kommt das Leben daher und packt dich metaphorisch am Hasenohr und beginnt zu ziehen. Jetzt kommt auch im Außen das eine zum anderen. Irgendwie erscheinen die Dinge wackelig. Aber das ist noch seltsamer als vorher. Denn: Alles ist gut. Alles ist wie immer. Nur dass manches irgendwie doch nicht mehr so sicher erscheint.
Im Laufe unseres Lebens kommen wir oft an Weggabelungen. In jungen Jahren erscheint uns das ganz natürlich: diverse Schulwechsel, die Entscheidung einen Beruf zu erlernen und dazugehörige Umzüge, der Aufbau eines sozialen Netzwerks, die Partner:innen-Wahl, die Gründung einer Familie oder die Entscheidung dagegen. All dies geschieht mehr oder weniger selbstverständlich. Zumindest erkennen wir an, dass viele dieser Entwicklungen notwendig sind und lassen sie entsprechend zu. Klar hadern wir auch schon mal. Aber die Veränderung erscheint uns unausweichlich. Also lassen wir uns darauf ein. Dass das Zulassen von Neuem dazugehört, ist uns im ersten Drittel unseres Lebens vielleicht auch nicht direkt bewusst, aber wir gehen mit dem Flow und lassen es geschehen.
Tja und dann kommst du in deinen Vierzigern an. Du hast einen guten Job, einen soliden Freundes- oder sagen wir Freundinnenkreis, dein zu Hause ist ganz schön und mit deiner Familie hast du auch einen guten Fang gemacht. Du hast hier und da ein kleines Hobby. Okay, das kommt vielleicht etwas zu kurz, aber zumindest schenkt es dir das sichere Gefühl, dass es etwas gibt, mit dem du dich beschäftigen könntest, wenn du nur genug Zeit hättest.
Und dann hast du noch etwas. Etwas, das ganz allein dir gehört. Etwas, das du hütest wie einen Schatz, von dem du nicht einmal weißt. Du hast einen Haufen von Geschichten. Über dich. Über dein Leben. Über das Leben allgemein. Und diese Geschichten hast du schon so oft erzählt und gehört. Geschichten, die im ersten Drittel deines Lebens fußen und wie langgezogenes Kaugummi auch in die nächste Lebensphase rüber gezogen werden. Warum auch nicht, alles ist gut. Alles ist wie immer. Alles ist, wie du es kennst.
Das Einzige, was nicht mehr so ist wie früher, ist die Bereitschaft, Veränderungen zuzulassen. Wir investieren viel Kraft, um den erreichten Zustand zu erhalten. Wir geben wirklich viel rein, damit die Maschine weiterläuft. Und das gelingt uns auch. Klar. Wir sind starke Menschen. Mit starken Persönlichkeiten. Mit starkem Willen.
Vielleicht gelingt es uns, die Geschichten aus der Vergangenheit, die uns im Guten wie im Schlechten (ich möchte eigentlich lieber sagen: im Förderlichen wie im Unförderlichen) geprägt haben, einfach dort zu lassen, wo sie hingehören. In der Vergangenheit. Ein Erfahrungsschatz, den uns niemand nimmt. Der aber auch nicht das eiserne Gewicht sein muss, welches uns an diesem Punkt in unserem Leben sehr viel Kraft und weitere Entwicklungen kostet. Klar sind uns diese Geschichten lieb und teuer. Sie scheinen der Kern dessen zu sein, wer wir sind. Wo aber sind die neuen Geschichten, die wir erleben? Damit meine ich nicht die Gehaltserhöhung, den Bali Urlaub oder den regelmäßigen
Besuch einer Yogastunde, in der du dich endlich mal auspowerst. Ich meine die Geschichten, in denen du dir erlaubst, neue Seiten an dir kennenzulernen. Alten Sehnsüchten zu folgen. Deiner Stimme zu lauschen, die deine persönliche Begrenzung aufzeigt. Derjenigen zu folgen, die dir zeigt, was du sonst noch sein möchtest. Und könntest.
Was ist mit den Geschichten, mit denen wir das Leben als solches bereichern? Wo ist der Anteil von uns, der über viele Jahre bereit war, zu wachsen? Sich einzulassen und dem Leben zu erlauben, uns zuzuarbeiten?
Was braucht es, bis wir merken, dass wir in einigen Lebensbereichen schon wirklich lange auf der Stelle wandern? Was zunächst aussieht wie eine Gabelung, ist eigentlich ein Scheideweg. Entweder, wir wenden uns gegen den Fluss des Lebens, und marschieren eifrig weiter auf der gleichen Stelle. Schwer bepackt mit einem gut gehüteten Haufen von Geschichten. Oder wir kehren dahin zurück, wo wir hergekommen sind. Nämlich auf den Weg nach vorn. Denn auch dort, ist alles gut. Alles wie immer. So wie du es von früher kennst.